Auch Plattdeutsch in Hamburg
Die Zeit
vom 12.01.2012 Nr.3
Schnacken wie die Alten

 

 

Dialekt oder Sprache?

Warum ist Bairisch ein Dialekt, Plattdeutsch aber eine Sprache? Wer darauf eine klare Antwort sucht, wird enttäuscht. Sprach­wissenschaftler räumen ein, dass die Grenze oft willkürlich gezogen ist. In Deutschland zählte der Germa­nist Peter Wiesinger mehr als 20 Dialekte, darunter Schwäbisch, Nordbairisch und Obersächsisch. Doch nur Niederdeutsch erhielt in der Europäischen Sprach-Charta von 1999 den Status der Regional­sprache, die als Kulturerbe ge­schützt und gefördert werden soll. Platt werde selten mit Hochdeutsch vermischt, außerdem besitze es eine lange Tradition als Handelssprache zur Zeit der Hanse, erklären man­che Experten den Sonderstatus. Andere verweisen schlicht auf sei­ne starke Lobby: Das niederdeut­sche Sprachgebiet umfasst Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Meck­lenburg-Vorpommern, Berlin und Brandenburg. 
 
Plattdeutsch war fast ausgestorben. An Hamburger Grundschulen erlebt es jetzt ein überraschendes Comeback
Von Wolfgang Krischke
 

Auf dem Boden liegen Karten mit  Bildern  von  Früchten. Maren Möller hebt die Stachelbeerkarte hoch und zeigt sie den Schulkindern. Welche Farbe haben Stachelbeeren?, möchte die Lehrerin wissen. Über so eine simple Frage würden sich die Zweitklässler normalerweise wohl wundern - aber Frau Möller stellt sie auf Plattdeutsch: »Wat is de Farv von de Stickelbeern?«  Nicht  »grün«,   sondern »greun« ist die richtige Antwort. Einmal pro Wo­che steht in der Hamburger Grundschule Curslack-Neuengamme Niederdeutsch auf dem Stundenplan. Es ist kein trockenes Pauken, sondern eine bunte Mischung aus spielerischen Übungen, gemeinsamem Singen und kleinen Tanzeinlagen. Die Kinder sind mit Spaß bei der Sache. Für die meisten von ihnen ist Platt fast eine Fremdsprache, untereinander reden sie Hochdeutsch. Die Schule im dörflichen Stadtteil Curslack ist eine von acht Hamburger Grundschulen, in denen seit Kurzem Plattdeutsch als Wahlpflichtfach  unterrichtet wird. Insgesamt mehr als 200 Kinder sind von ihren Eltern dafür angemeldet worden. Zwei  weitere  Schulen  haben  ebenfalls  Platt- deutsch im Angebot — theoretisch. Praktisch war die Nachfrage bislang zu gering, um Stunden anzubieten. Unterstützt werden die Lehrer von ehrenamtlichen Sprachpaten, den »Plattsnackers«. In den ersten beiden Schuljahren stehen Sprechen und Hörverständnis im Vordergrund. Erst später, wenn die Schüler die Grundlagen der hochdeutschen Rechtschreibung gelernt haben, sieht der Lehrplan auch Schreiben und Lesen auf Niederdeutsch vor — aber ohne Diktate und Grammatiktests. Die Unterrichtssprache ist von vornherein Platt, mit hochdeutschen »Ausrut­schern« gehen die Lehrer tolerant um. Das Ziel ist nicht nur, das Niederdeutsche zu stärken, sondern auch, das Bewusstsein der Schüler für die sprachlichen Traditionen ihrer Heimat zu schär­fen. Anknüpfungspunkte gibt es genug in einer Stadt, deren berühmtester Park Planten un Blomen heißt und deren Straßen Namen wie Schoolmesterkamp (Schulmeisterfeld) oder Kat-tensteert (Katzenschwanz) tragen.
Hamburg ist das erste Bundesland, in dem die regionale Sprache als eigenständiges Fach im Lehrplan verankert ist und von den Schülern aktiv erlernt wird. Wenn sich das Konzept bewährt, sollen den Pilotschulen weitere folgen. Nieder­deutsch könnte dann sogar Abiturfach werden.
Doch jetzt, in der Anfangsphase, ist noch viel Pioniergeist gefragt: Lehrerinnen wie Maren Möller müssen oft improvisieren, weil es an Unterrichtsmaterialien fehlt. Um Abhilfe zu schaffen, haben Niederdeutsch-Freunde - unter ihnen der ehemalige Erste Bürgermeister Henning Voscherau — den Verein Plattolio gegründet. Er betreibt eine plattdeutsche Internetwebsite für Kinder und bietet den Niederdeutsch-Lehrern Texte, Hörbeispiele und Unterrichtsvorschläge an.
Ein wesentliches Motiv für den pädagogischen Vorstoß des Stadtstaats liefert das EU-Recht: Dem zufolge gilt Plattdeutsch nämlich nicht als Dialekt, sondern als eine Regionalsprache. Und die fällt unter die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. In ihr verpflichtet sich Deutschland, neben Friesisch, Sorbisch, Dänisch und Romanes als Minderheitensprachen auch Niederdeutsch zu fördern und in den Schulen zu unterrichten. Dass Hamburg diese Verpflichtung so ernst nimmt, ist vor allem Heinz Grasmück zu verdanken. Der Referatsleiter für Deutsch im Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung brachte die Fachleute an einen Tisch und trieb die Planung mit Nachdruck voran. Für den Unterricht fehlen dabei nicht nur Bücher und Lernspiele, auch Lehrer werden drin­gend gesucht. Grasmück kann sich vorstellen, dass nicht nur Deutsch-, sondern auch Fremdsprachen­lehrer Niederdeutsch unterrichten, vorausgesetzt natürlich, sie sprechen Platt.
Bislang steht Hamburg unter den acht Bundesländern, in denen Niederdeutsch gesprochen wird, allerdings ziemlich allein da. Die meisten Schüler in der nördlichen Hälfte Deutschlands lernen Platt nur durch gelegentliche Lieder und Gedichte und in eher theoretischer Form als Gegenstand der Sprachbetrachtung kennen. Echter Sprachunter­richt findet nur in einzelnen Schulen und Vorschulen statt, wo engagierte Pädagogen von sich

aus die Initiative ergreifen. Ähnlich sieht es mit den Mundarten jenseits der »ik-ich-Grenze«, in den mitleren und südlichen Landstrichen Deutschlands aus. Sächsisch, Fränkisch, Bairisch oder Schwäbisch gelten zwar juristisch nicht als Sprachen, haben in ihren Regionen aber dieselbe Bedeutung wie Platt im Norden. Auch sie werden nicht als eigenständige Fächer gelehrt.
Unter dem Stichwort Sprachkunde spielen sie im Deutschunterricht mancher Bundesländer aber durchaus eine wichtige Rolle. Zum Beispiel in Bayern: Dort betätigen sich die Schüler in der Mittel- und Oberstufe als Mundartforscher. »Schüler haben zum Beispiel ein Wörterbuch zu den Trachten ihres Heimatdorfes zusammenge­stellt, Mundart-Autoren interviewt oder Dialekt­karten gezeichnet«, berichtet Steffen Arzberger, Dialektologe und Deutschlehrer am Gymnasium in Neumarkt in der Oberpfalz. Dialekte seien her­vorragend dazu geeignet, den Variantenreichtum der Sprache jenseits des hochdeutschen Standards zu verdeutlichen und Interesse an der heimatlichen Kultur zu wecken, findet Arzberger. Die Region seiner Schule, wo fränkische und bairische Mundarten aufeinandertreffen, ist ein fruchtbarer Boden für solche Expeditionen.
Wenn allerdings die sprachliche Umgebung in dieser Hinsicht wenig hergibt, ist oft auch das In­teresse der Schüler gering. Steffen Arzberger erinnert sich an seine Zeit als Lehrer in Nürnberg, das nur 30 Kilometer entfernt, aber sprachlich schon
in einer anderen Welt liegt. »Die Schüler dort -mit und ohne Migrationshintergrund - hatten mit dem Mundart-Thema nichts im Sinn. In der Frei­zeit haben sie nicht Dialekt, sondern Hoch- oder Kiez-Deutsch gesprochen.« Der Idee, das Dialekt­sprechen regulär zu unterrichten, steht der Lehrer zurückhaltend gegenüber: »Wenn, dann muss das Umfeld dazu passen.«
In der Hansestadt Hamburg genießt Niederdeutsch als Identitätssymbol ein hohes Prestige. Prominente aus Politik, Wirtschaft und Kultur bekennen sich gern zum Platt, Vereine engagieren sich dafür, und an der Universität kann man das Fach Niederdeutsche Sprache und Literatur studie­ren. Andererseits bestimmen in der Millionenmetropole Szene­jargons, Business-Denglish und Dutzende von Migrantenspra­chen den Takt der Kommuni­kation. Platt befindet sich da schon seit Langem auf dem Rückzug. Gerade einmal zehn Prozent der Ham­burger geben an, es noch gut sprechen zu können.
Mit Bedacht hat man für die Einführungsphase des Niederdeutschunterrichts deshalb Grundschulen ausgesucht, die in den ländlich geprägten Stadtteilen entlang der Elbe liegen. In dieser Region, wo Wiesen, Obstbäume und Gemüsefelder
das Bild prägen und der Weg an reetgedeckten Häusern vorbeiführt^ ist das Niederdeutsche noch deutlich stärker verwurzelt. Doch auch hier sind es oft nur noch die Älteren, die es alltäglich sprechen. Die meisten Eltern, die ihre Kinder jetzt in den Niederdeutschuhterricht schicken, verstehen Platt zwar noch, benutzen es aber nicht mehr. Sie möchten nicht, dass der Faden zwischen Großeltern und Enkeln reißt.
»Weil das Niederdeutsche in den Familien nicht mehr weitergegeben wird, ist die Schule der Ausweg«, sagt Ingrid Schröder, Niederdeutschprofessorin an der Universität Hamburg und als wissenschaftliche Beraterin an der Planung des neuen Fachs beteiligt. Bis in die achtziger Jahre hinein sahen viele Eltern und Lehrer - nicht nur in Norddeutschland - in den Dialekten Barrieren auf dem Weg zum korrekten Hochdeutsch. »Heute steht man der Mehrsprachigkeit viel positiver gegenüber. Die Vorstellung, die Kinder müssten erst im Hochdeutschen perfekt sein, bevor andere Sprachen dazukommen können, ist verschwunden«, sagt Ingrid Schröder. Ähnlich sieht es Rupert Hochholzer, Germanistik­professor an der Universität Regensburg und Experte für Mehrsprachigkeit. »Das Erlernen eines Dialekts behindert nicht den Erwerb der deutschen Standardsprache. Das gilt übrigens auch für Kinder von Immigranten. Es gibt keinen begrenzten Sprachlernspeicher, der dann irgendwann voll ist.« Trotzdem - in der Praxis stellt für viele Kinder, die mit Türkisch, Russisch oder Arabisch als Muttersprache aufwachsen, schon das Erlernen der hochdeutschen Standardsprache eine Heraus­forderung dar. Insofern ist es womöglich kein Zufall, dass eine der beiden Hamburger Pilotschulen, die bislang mangels Nachfrage nicht starten konnten, einen hohen Anteil an Migranten aufweist.
Allgemeingültige Schlüsse lassen sich daraus allerdings nicht ziehen: Bei plattdeutschen Lesewettbewerben der vergangenen Jahre waren es oft Kinder aus indisch-, russisch- oder chinesisch­stämmigen Familien, die besonders gut abschnitten. Gerade weil sie von klein auf mit mehreren Sprachen aufgewachsen sind, freundeten sie sich auch mit dem Niederdeutschen schnell an. »Niederdeutschunterricht kann die Integration sogar fördern, wenn Schüler mit Migrationshintergrund erleben, dass ihre deutschstämmigen Klassenkameraden es genauso erlernen müssen«, meint Referatsleiter Heinz Grasmück.
Wie weit das mehrgleisige Sprachenlernen im Schulalltag funktioniert, dafür ist auch der Englischunterricht ein Prüfstein, der in Hamburg von Klasse eins an erteilt wird. »Es kommt vor, dass die Kinder Englisch und Niederdeutsch vermischen. Vieles klingt ähnlich, und für sie gehört beides in die Abteilung Fremdsprache«, sagt Birgit Freitag, die die Grundschule Curslack-Neuengamme leitet und dort auch Englisch unterrichtet. Untersuchungen zur Sprachentwicklung zeigen allerdings, dass die meisten Kinder nach und nach lernen, die unterschiedlichen Sprachen zu sortieren. In der Schulbehörde der Hansestadt begreift man das Nebeneinander von Niederdeutsch, Hochdeutsch und Englisch sogar als Chance, durch den Sprachvergleich das Bewusstsein der Schüler für die Ähnlichkeiten und Unterschiede zu schärfen. »Wer eine hohe sprachliche Reflexionsfähigkeit besitzt, hat auch gute aktive Sprachfähigkeiten«, bestätigt der Sprachwissenschaftler Rupert Hochholzer. Der Niederdeutsch­unterricht hätte damit seinen sprachpädagogi­schen Zweck erfüllt. Ob Plattdeutsch aus den Klassenzimmern heraus allerdings auch wieder gestärkt ins tägliche Leben zurückkehren wird, ist eine ganz andere Frage.

Fremde Laute
Nur noch zehn Prozent der Hamburger geben an, gut Platt sprechen zu können. Vor allem Prominente bekennen sich gern zum Niederdeutschen

         
     
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